Der Yoga in Praxis und Theorie

Der Yoga nach Patanjali

Yoga Sutra

  •  systematisiert erstmals den Yoga zu einem klassischen Text
  • stellt den Geist, so wie er beschaffen ist und wie wir Einfluss auf ihn nehmen können, in den Mittelpunkt
  • Definition Yoga gem. Yoga Sutra (I.2):
    Yoga ist der Zustand, in dem die Bewegungen des Citta (des meinenenden Selbst) in eine dynamische Stille übergehen. Einheit besteht, wenn Gefühle und Gedanken zueinander finden.
  • klärt Fragen zur Beschaffenheit des Geistes

Citta = Das meinende Selbst

  • Die Bewegungen (vrttis) sind in 5 Arten unterteilt (I.5-11)
  • Pramana – richtige Wahrnehmung/ Erkennen
  • Viparyaya – falsche Wahrnehmung/ Verblendung
  • Vikalpa – Vorstellung/ Imagination
  • Nidra – Tiefschlaf
  • Smrti – Erinnerung
  • Durch Abhaysa (beharrliches Üben) und Vairagya (Gleichmut) kann die dynamische Stille des Citta (des meinenden Selbst) erreicht werden.
  • Beharrliches Üben und nachhaltiger Gleichmut führen unweigerlich zur Einheit der Gefühle und Gedanken.

Avidya

  • Unser Geist arbeitet über Wahrnehmung
  • Avidya, wörtlich: ›Wissen, was kein richtiges Wissen ist‹
    1. Wir sehen etwas so, wie es in Wirklichkeit nicht ist.
    2. Wir glauben nicht zu wissen, obwohl wir es tun.
    => Wissen, was wir angehäuft haben durch Erfahrungen, Erlebtes und was wir auf die neue Situation projizieren.
  • Wie drückt sich avidya aus?
    … selten sofort und direkt!!!
    … wahrnehmbar durch seine vier Aktivitäten:
  • asmita – Ego = „Ich muss andere übertreffen.“, „Ich bin der /
    die Größte.“, „Ich weiß, dass ich recht habe.“
  • raga – Bedürfnis, Verlangen = etwas Festhalten, weil es angenehm war und nicht, weil wir es wirklich brauchen; Bsp.: „Ich will noch ein Stück von der Schokolade.“
  • dvesha – Ablehnung = etwas Ablehnen, weil wir eine schlechte
    Erfahrung damit gemacht haben oder weil wir es nicht kennen
  • abhinivesha – Wurzel der Angst = Unsicherheit, Zweifel

Übungsweg

Der Übungsweg des Yoga hat drei Aspekte:

  • tapas – Mittel und Wege, uns gesund zu erhalten ( Asanas, pranayama, Ernährung)
  • svadhyaya – (Selbst-)Studium, Untersuchung wer wir sind, was wir sind, unsere Beziehung zur Welt
  • ishvara pranidhana – Hingabe an etwas Größeres als wir es sind, dem Handeln selbst mehr Aufmerksamkeit widmen = Gesundheit, Erkenntnis, Qualität des Handelns (II.1)
    => Drei Praktiken, um avidya zu verringern
    => kriya yoga (Yoga des Handelns)
  • kriya Yoga = Mittel, um Yoga im Sinne eines Seinszustandes zu erreichen.
  • Das wesentliche Ziel der Yogapraxis = avidya zu verringern, damit mehr und mehr ein wahres Verstehen aufkommt.
    Ergebnis:
    -> Gelassenheit
    -> Zufriedenheit
    -> frei von Gefühl und Urteil

Dukha

  • oft übersetzt als ›Leiden‹, ›Kummer‹, ›Krankheit‹
  • Eingeschränktsein
  • Gefühl von Etwas erdrückt zu werden ≠ körperlicher Schmerz
  • entsteht aus Verlangen -> wir bekommen Etwas nicht, was wir wollen
  • entsteht aus Gewohnheit -> wir sind an Etwas gewöhnt und müssen es aufgeben
    => Durch avidya (Nichtwissen) entsteht dukha (Leiden)!!!

Neun Hindernisse (antarayah)

= Steine, die vor einem Menschen liegen, der sich auf den (Yoga-)Weg gemacht hat.

  • Krankheit,
  • Trägheit,
  • Zweifelsucht/Unentschiedenheit,
  • Hast und Ungeduld,
  • Resignation, Faulheit
  • Ablenkung,
  • Unwissenheit und Selbstüberschätzung,
  • Fehleinschätzung
  • Fehlende Zielstrebigkeit
  • Unbeständigkeit

Kernstück der Sutras

-> nur wenn wir diesem schrittweisen Vorgehen folgen, sind wir auf dem sicheren Weg und können dem ersten Satz des Sutra „yogas citta vritti nirodhah“ (Yoga ist das Zur-Ruhe-bringen der Bewegungen im Geist) begegnen

Der achtgliedrige Pfad

Die Stufenleiter – Gliederung (II.29)
1. Yama – allgemeine Ordnung
2. Niyama – besondere Ordnung
3. Asana – rechte Sitzhaltung
4. Pranayama – Atem-Achtsamkeit
5. Pratyahara – Zurückziehen der Sinne
6. Dharana – Sammlung
7. Dhyana – reine Beobachtung
8. Samadhi – Einssein

=> Die Sutras bedingen einander und bauen aufeinander auf.

Die Theorie des Yoga: Die Sankhya-Lehre

  • Von den sechs als gültig anerkannten „Betrachtungsweisen“, şad-darśana, ist der Sāňkhya, wörtlich die „Aufzählung“ eine der ältesten
  • Sāňkhya ist im Gegensatz zum Vedānta dualistisch, dvaita, und trennt kategorisch die prakŗti, „Materie“, und das „Subjekt“, ein über-persönliches, über-individuelles Bewusstsein,
    „Geist“, puruşa, maskulin (wörtl. „Subjekt“), ein Konzept, das dem ātman des Vedānta entspricht.
  • Beide, Materie und „Geist“ sind unerschaffen, ewig, anfangs- und endlos
  • Die prakŗti (ewige Kraftsubstanz) ist ungeschaffen, ewig, unendlich, zeitlos, aktiv und blind; Zeit und Raum sind ihre Emanationen. Sie besteht aus drei Konstituenten, guņa-s,
    namentlich sattva (weiß, klar, hell, nach oben strebend),
    rajas (rot, energetisch, leidenschaftlich, bewegt, in alle Richtungen strebend) und
    tamas (schwarz, klebrig, hemmend, nach unter strebend),
    deren unendlich viele Vermischungen zur Vielgestaltigkeit des Seins führen, aber auch des Menschen und seiner Psyche

Das Menschenbild des Sāňkhya:

  • Der Mensch besteht aus einem grobstofflichen Leib, der aus den fünf Elementen gebildet ist, sowie aus einem materiellen „inneren Organ“, antaħ-karaņa, wörtlich: „Innerer Macher“
    1. der buddhi („Erweckerin“, „Aufklärerin“),
    2. dem Individuationbewusstsein, Individualität oder „Ich-Macher“, aham-kāra, dem manas (lateinisch mens), übersetzbar als „Verstand“ (den auch die Tiere besitzen, während ihnen die buddhi fehlt),
    3. den fünf Sinnesorganen (Auge, Ohr, Nase, Mund und Haut) und
    4. den fünf Tatorganen (Hand, Fuß, Sprechwerkzeug, Ausscheidungsorgan=Metapher für die
    körperinneren unbewusst ablaufenden Vorgänge wie Verdauung etc. und
    Geschlechtsorgane = Symbol für die Triebhaftigkeit und das Getriebensein des Menschen; Schopenhauers „Wille“).
  • Der Mensch wird gesehen als Opfer des (weitgehend wie auch bei Tieren automatisch erfolgenden) Zusammenspiels von Sinnes- und Tatorganen mit den dazugehörenden
    Sinnesobjekten, der Interpretationen der Sinneseindrücke durch manas und der Rückkoppelung an den ahaň-kāra, wodurch Wollen, Wünschen, Triebe, Hoffen, Leidenschaften, Abneigungen,
    Egoismus etc. entstehen, die den Menschen in die Welt und vor allem in Emotionalität verstricken
  • Auch der Sāňkhya anerkennt auf den Grundlagen der Upanişaden die vier Eckpfeiler indischen Denkens: Wiedergeburt, punarjanma, das karman, die inhärente Leidhaftigkeit der Welt, duħkha, und die Erlösung, mokşa.
  • Beim Tode eines „Erleuchteten“, der aufgrund höchster Ethik, dharma, alles karman abgearbeitet und kein neues erworben hat, geht der puruşa in das nirvāņa ein, jenes unbeschreibbare Nicht-Nichts, in dem jegliches persönlich-individuelles Bewusstsein aufgelöst ist und aus dem es keine Wiederkehr gibt: Der Wunsch jedes nach Erlösung strebenden Inders, einst und heute
  • Wer allerdings unerlöst stirbt, dessen Feinleib, sūkşma-śarīra, oder liňga-śarīra, „Zeichenleib“, wandert, bestückt mit dem ganzen Datensatz des individuellen karman in die nächste, ihm allein zugehörend-passende Existenz auf der Welt

Bedeutung des Yoga für Alltag und Leben im Westen

Pflicht und Gelassenheit

In Vers 2.48 sagt Kŗşņa zu Arjuna :
yoga-sthah kuru karmāņi saňgam tyaktvā dhanamjaya / siddhy-asiddhyoh samo bhūtvā samatvam yoga ucyate  „Fest im Yoga stehend, vollziehe Deine Handlungen, o Dhanamjaya (Arjuna), und gib das Anhaften (die Identifikation) auf; sei gelassen gegenüber Erfolg und Misserfolg, denn „Gleichmut“, das ist Yoga.“

  • Als denkende und ethisch handelnde Menschen, so glaubt man in Indien, sind wir fähig, unsere Pflicht zu erkennen und sie klaglos zum Wohle aller zu erfüllen, so in Studium, Lehre und Beruf, bei Aufgaben in der Familie, Verwandten und Fremden gegenüber und dies in jeder Lage, auch in Krisenzeiten.
  • Wir geben unser jeweiliges Bestes, ohne auf das Ergebnis, die „Früchte“, phala, zu schielen; wir erwarten das Beste von uns und nicht von anderen; wir geben stets das beste ohne uns mit anderen zu vergleichen, Fehler anderer sollten uns nicht interessieren; wir helfen aus Freude, nicht um uns zu erhöhen oder wegen einer Gegenleistung; dies wäre Egoismus, ahaňkāra.
  • Yoga ist  sama-tva, also „Gleich-mut“. Dies bedeutet, dass wir Gelassenheit gegen uns selbst anwenden sollen, statt verbissen und hektisch zu werkeln
  • Im alten Indien war man der Überzeugung, im Yoga seien ein zu starkes Wollen und zu hohe Ansprüche an sich selbst oder der Vergleich mit anderen eher Hindernis als Hilfe, es geht um das Anerkennen dessen, was ist
  • Wer stets sein individuell Bestes gibt, für den gibt es kein Scheitern und kein Versagen, da jeder Schritt zählt und selbst ein Stolpern uns vorwärts bringt. Es gibt keinen „idealen“ Weg, sondern nur den individuellen, da das karma des Einzelnen wirkt. Daher kann es keinen Vergleich und keine Konkurrenz geben
  • Es wird deutlich, dass man im alten Indien bereits übte, was wir heute scheinbar modern „Ge-Lassen-Heit“ und „Entschleunigung“ nennen.

Nahrung

  • Der physische Leib, anna-maya-kośa, sowie unser geistiges Befinden und unser Bewusstsein hängen in hohem Maße von unserer Nahrung ab.
  • Die drei guņa-s sind:
    sattva = rein, ruhig, klar und klärend, hell, hoch strebend, aus Licht bestehend
    rajas = rot, energetisch, bewegt, leidenschaftlich und zu den Seiten, nach oben oder unten strebend
    tamas = schwarz, verharrend, klebrig, hemmend und nach unten strebend.
  • Alles Seiende, der Mensch selbst, aber auch die Nahrungsmittel, bestehen aus einer sich beständig wandelnden Mischung dieser drei Elemente.
  • Essen wirkt direkt auf manas, den Verstand (zu viel Fett und Zucker vernebeln ihn), auf den ahaňkāra, das Ich-Bewusstsein (Alkohol macht uns stolz oder schwermütig), und auf die buddhi, das feinste Wahrnehmungsorgan, dessen Klarheit durch zu viel rajas– und tamas-Nahrung verschmutzt wird und verklebt
  • Um den Yoga richtig üben und friedvoll leben, um den Geist, citta, von den vŗtti-s, Turbulenzen, befreien, und um Erkenntnis und Einsicht gewinnen zu können, sollten wir sattva-Nahrung bevorzugen, die Leidenschaft befördernde rajas-Nahrung beschränken und die Dumpfheit bewirkende tamas-Nahrung meiden, dann klärt sich die buddhi von Unreinheiten 
  • sattva-Nahrung = mild, süß, klar und beruhigend und stets gut für Gesundheit und Geist: Wasser, Getreide, Reis, Gemüse, Obst, Bohnen, Linsen, Nüsse, Kokosnuss, Sesam und Sesamöl, Milchprodukte (in Maßen und nur, wenn sie ohne Gewalt gewonnen wurden; also nicht aus Massentierhaltung)
  • rajas-Nahrung = salzig, scharf, bitter, bunt und belebend, sie ist teils gut, teils
    schlecht, dies vor allem im Übermaß: Gemischtes, Gewürztes und Zusammengekochtes, „Eintöpfe“, Zucker, Chilis, Kaffee, Tee, Schokolade, Eier, Fertigprodukte, vegetarisches und veganes Fastfood, Konserven und in Fabriken Hergestelltes
  • tamas-Nahrung = schwer, klebrig,
    fett, zuckrig, sie schadet immer und befördert Faulheit und Verrohung: Fleisch, Fisch, Alkohol, Zwiebeln, Knoblauch, Käse aus (Kälber-)Lab, Zuckerprodukte, Tabak und alles, was mit Gewalt erzeugt wurde.
  • Die Herkunft der Nahrungsmittel ist bedeutsam: Diese sollten saisonal und regional sein; wir unterstützen unsere Bauern und zahlen anständig für ihre Produkte (Geiz befördert hemmendes karman); ein Yogi bedankt sich, bevor er zu essen beginnt, innerlich bei der Natur und den Bauern.

Bewusst geübte Schweigsamkeit

  • Die Gewalt von Taten ist deutlich, die Gewalt der Worte wird seltener bemerkt und manche glauben, sie hätten ein Recht auf Nörgeln, Schimpfen, Beschuldigen, Zetern, Kränken und Kritisieren, weil dies Zeichen höherer Erkenntnisse seien und man „der Dumme sei“, wenn man nachgebe.
  • Aus indischer Sicht ist das Gegenteil richtig: Wer schweigt, ist weise, die Kette der Aggressionen, in denen ein Wort das andere gibt, reißt. Die Yogis übten mauna-vrata, das Schweige-Gelöbnis, um innere Kräfte zu bündeln und Selbstdisziplin zu üben. Durch Schweigen entsteht Energie, Gelassenheit und Heiterkeit, Kennzeichen vieler Erleuchteter
  • Für unseren Alltag könnte dies bedeuten: Langsam und stetig üben, innezuhalten und zu bedenken, dass der andere Recht haben könnte, den eigenen Standpunkt zu relativieren; dem anderen die Ehre des letzten Wortes überlassen, Besserwisserei unterlassen. Einmal kein Widerwort geben, auch wenn es schwer fällt. Keinen Klatsch, keinen Tratsch, keine Häme, kein Schmollen, kein Wort über Abwesende. Wir sollten dies gelassen üben und keinen Stolz darauf entwickeln.